Kälber von Mutterkühen tränken sich oft 7 und mehr Monate an ihrer Mutter. Spätestens mit dem Trockenstellen zur nächsten Kalbung verweigert dann aber auch die „geduldigste“ Mutter ihrem aktuellen Kalb und Zögling den Zugang zu ihrem Euter. Und das natürlich aus gutem Grund, denn die nächste Generation muss einen optimalen Start erwischen, und alle Energie darauf gerichtet werden. Hier weiterlesen…
Länger tränken – länger leben?
Kälber von Mutterkühen tränken sich oft 7 und mehr Monate an ihrer Mutter. Spätestens mit dem Trockenstellen zur nächsten Kalbung verweigert dann aber auch die „geduldigste“ Mutter ihrem aktuellen Kalb und Zögling den Zugang zu ihrem Euter. Und das natürlich aus gutem Grund, denn die nächste Generation muss einen optimalen Start erwischen, und alle Energie darauf gerichtet werden.
Wie lange aber sollte im Gegensatz zu Fleischkälbern es den Milchviehkälbern wirtschaftlich erlaubt sein, in den Genuss von Vollmilch bzw. Milchaustauscher zu kommen? Hierauf versuchten vor allem US-amerikanische Forschungseinrichtungen seit den 1980er Jahren Antworten zu geben. Das Ergebnis ist beeindruckend: Man konnte nach 7 bis 8 Wochen und Einsatz von nur eineinhalb Sack Milchaustauscher (40 kg) ein Kalb entwöhnen und zum Wiederkäuer machen. Scheinbar sehr erfolgreich, denn die Kälber gaben als Kühe richtig gut Milch. Warum sollte man an dieser Praxis zweifeln und rütteln?
Nachhaltigkeit im Fokus
Nun, Nachhaltigkeit als eines der zentralen Zukunftsmaßstäbe ist insbesondere in Europa erst seit ein wenigen Jahren in den Fokus gerückt, aber seitdem muss sich nahezu alles dieser Forderung unterordnen. Zeitgleich hat eine hyperkritische Verbraucherschaft den Begriff der „Turbo- bzw. Wegwerfkuh“ erschaffen und beklagt sich, dass Kühe selten nur 3 und mehr Laktationen durchhalten. Heute ist man mehr und mehr bereit, zu schauen, wie weit sich die industrielle Milchproduktion von der Natur entfernt hat. Für die Kälberaufzucht bedeutet das, dass man sich mehr und mehr kritisch mit dem wiederkäuerforcierten Kurztränkeregime auseinandersetzt und feststellt, dass eine längere und intensivere Tränke nicht nur zu höheren Milchleistungen führte, sondern auch zu mehr Gesundheit und Lebenszeit. Wie ist das zu erklären?
Biestmilch hat Katalysatorfunktion
Ein zentraler Mechanismus mag in der „metabolischen Programmierung“ liegen, bei der man mit Hilfe der Fütterung in den ersten Lebenswochen die Wirkungsweise von Genen positiv beeinflussen kann. Die Biestmilch hat dabei eine Katalysatorfunktion. Alleine über eine optimale Erstkolostrumversorgung lassen sich mehr als 1000 kg Milch in der ersten Laktation erzielen (Faber et al., 2005; Stefanska et al., 2021). Darüber hinaus ist der Zusammenhang von Tränke, Zunahmen und Milchleistung bis in die 3. Laktation wissenschaftlich sehr gut herausgestellt. Als Faustformel gilt: Pro 1 g höhere Tageszunahmen vor dem Absetzen produzieren Färsen später 2 Liter mehr Milch in der ersten Laktation (Soberon und Van Amburgh, 2013).
Ein Langzeitfütterungsversuch der Firma Trouw Nutrition, mittlerweile im siebten Jahr und in der vierten Laktation angekommen, zeigt darüber hinaus eindrucksvoll, wie Kälber, die mit 8 Litern statt mit 4 Litern bis zum 56. Lebenstag gefüttert wurden, länger als Kühe produktiv sind.
Während in der 4 Liter Gruppe nur noch gut ein Drittel der Kühe im Bestand sind, sind es bei der 8 Liter Gruppe noch deutlich mehr als die Hälfte. Und das bei einem Versuch, bei dem man beide Gruppen früh absetzte. Dieser Versuch zeigt auf der einen Seite, wie sich eine intensivere Tränkeintensität auf Gesundheit und die Leistungsbereitschaft auszahlt. Warum scheint aber auch die Tränkedauer und insbesondere das Abtränken so wichtig zu sein?
Tränkedauer beeinflusst Widerstandsfähigkeit
Speziell mit dieser Fragestellung hat sich eine Arbeitsgruppe der Uni Hohenheim um Prof. Korinna Huber aktuell beschäftigt (Schwarzkopf et al., 2019 und 2021). Sie verglichen in einer Studie nebeneinander „Kurztränke 7 Wochen“ mit 17wöchiger „Langtränke“. Viele gemessene Blutparameter waren signifikant unterschiedlich: So hatten die schnell entwöhnten Kälber z.B. permanent zu niedrige Glukose- und Insulinspiegel nach dem Absetzen und normalisierten sich erst ab dem 100ten Lebenstag. Die Leptinspiegel dagegen waren auch nach dem Ende des Beobachtungszeitraums von 140 Tagen noch niedriger als bei den erst mit 17 Wochen abgesetzten Kälbern. Schaut man sich die Funktion von Leptin an, so ist speziell dieses Hormon nicht nur für den Energie – und Fettstoffwechsel wichtig, sondern auch entscheidend beim Immunsystem beteiligt. Es sieht also ganz danach aus, dass wir durch zeitliche und energetische Einsparungen in der Tränkephase eine Programmierung in der umgekehrten Richtung vornehmen, die Kälber mit zunehmendem Alter weniger resilienter und widerstandsfähiger werden lassen.
Kurzgetränkte Kälber fallen nach 8 Wochen in ein ausgeprägtes Energieloch, für das sie weitere 7-8 Wochen benötigen, um auf den Ausgangsenergie-Status wieder zu kommen. Zudem befinden sich derart aufgezogene Kälber häufig in einer latenten Pansenazidose (Niekerk et al., 2020). Das wirft die Kälber etliche Wochen in ihrer Entwicklung zurück und macht sie anfälliger für Infektionen nach dem Absetzen wie z.B. Kokzidien gegenüber. Eine aktuelle Studie aus Griechenland (Kazana et al., 2022) hat dazu passend herausgefunden, dass Kälber, die zum Absetzen keine Pansenazidose hatten, auch die besten Gewichtszunahmen und Blutparameter aufwiesen. Eine weitere Beobachtung, die uns auch von der Natur und den Mutterkuhkälbern bekannt vorkommt.
Nach all dem neuen Wissen und der Aussicht auf Langlebigkeit im Sinne einer nachhaltigeren Milchproduktion sollten wir Kälber noch mehr nach dem Vorbild von Mutter Natur tränken: mit mehr Energie, aber auch erst frühestens mit 90/100 Tagen entwöhnen. Und zwar so schonend, dass die Kälber das am besten gar nicht erst mitbekommen. Dann haben wir die gesündesten und robustesten Kälber, die wir haben wollen und an denen wir sehr lange Spaß haben werden.
Abtränkephase so lang wie Tränkephase
Mein Praxisvorschlag zum Tränkeplan stammt von der Neumühle. Dr. Christian Koch hat ihn bereits 2017 sehr prägnant herausgearbeitet. Dabei fällt auf, dass die Abtränkephase mindestens so lange ist, wie die eigentliche Tränkephase. Die Kunst liegt damit wahrscheinlich in dem Bemühen, dass Kälber gar nicht merken sollen, dass sie abgetränkt werden und so stressfrei und unbeschwert zum Wiederkäuer sich entwickeln dürfen.
Probiert es unbedingt aus! Euch ein frohes Fest und ein erfolgreiches 2023.
Euer Kälberblogger
Peter Zieger
Literatur ist beim Verfasser auf Anfrage erhältlich!